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Diesseits und jenseits der Schmerzgrenze

Rote Linien der Zivilgesellschaft im Umgang mit Zensur und finanzieller Abhängigkeit

This Side and Beyond th breaking point_AI generiertes Bild

Am 16. Mai 2025 trafen Aktivist*innen der HIV-Community aus Uganda und Russland mit der stellvertretenden Direktorin von UNAIDS zu einem sog. Kamingespräch. Eingeladen zu der virtuellen Diskussion hatte das Aktionsbündnis gegen AIDS. Das Gespräch fand im Rahmen der Diskussionsreihe „Quo Vadis, Global Health“ statt.

Ziel der Diskussionsreihe ist es, Problemlagen und Fragen zu diskutieren, die mit der Verschiebung der Prioritäten der US-Regierung unter Trump – Amerika first -, dem Ausstieg aus globaler Kooperation und Verantwortung, und den abrupten Kürzungen von Gesundheitsprogrammen im globalen Süden einhergehen: diskutiert werden sollen die Auswirkungen der Kürzungen für Menschen mit HIV, Tuberkulose und Malaria, der durch sie und für sie geschaffenen Programme und (Versorgungs-) Strukturen. Wie geht es weiter in den USA, sollten die Machthabenden sich der Erkenntnis und des Wissens um den Mehrwert internationaler Kooperation und Solidarität dauerhaft verwehren? Sollte das Land immer mehr zu einer kompletten Oligarchie verkommen? Einem politischen System, in dem Milliardäre und Unternehmen die Macht ausüben und sich ihre Privilegien erkaufen bzw. zusammenrauben? Welche Bedeutung haben diese Entwicklungen für das Überleben ohnehin vulnerabler Gruppen, der durch sie vertretenen Communities und für zukünftige Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements?

Die Veranstaltung stand im Zeichen der jüngsten Auferlegung terminologischer Beschränkungen der US-Regierung, einschließlich Begriffen wie „Gender“, „LGBTIQ“ und „Gleichheit“. Diese Tendenzen spiegeln autoritäre Strategien wider und bedrohen die Grundwerte der Inklusion und der auf Menschenrecht basierenden Prinzipien öffentlicher Gesundheit. Globale Organisationen wie UNAIDS haben nun zunehmend Schwierigkeiten, ihre Mandate zu erfüllen und getroffene Vereinbarungen durchzusetzen. Vertreter*innen von Communities müssen sich auf die Herausforderungen eines mehr und mehr feindlich agierenden Umfelds einstellen. 

Da sowohl Russland als auch Uganda eine lange Tradition des Umgangs mit Zensur haben, lag eine Diskussion mit Aktivist*innen aus beide Regionen nahe: wir bedanken uns bei Alexei Lakhov aus Russland, Shawn Mugisha aus Uganda und bei Christine Stegling von UNAIDS für eine reiche Diskussion zu ihren Einschätzungen, Erfahrungen und Strategien.

Rote Linien im Umgang mit Zensur und Repression

Die Diskussion half dabei Strategien und „rote Linien“ im Umgang mit Zensur zu identifizieren. Für uns ist dies eine erste Auseinandersetzung mit dem Thema. Die genannten Argumente sind sicher nicht vollständig und müssen um Erfahrungen aus anderen Ländern mit totalitär agierenden Regierungen abgeglichen und ergänzt werden. Abzuwarten bleibt, ob und wie sich die globale HIV- und LGBTIQ*-Community mit den abnehmenden Möglichkeiten zivilgesellschaftliches Engagement, shrinking spaces, auseinandersetzen werden und welche Möglichkeiten zur Abhilfe identifiziert werden. Eine für alle gültige, erfolgreiche Strategie im Umgang mit Repression gibt es nicht. Politische Konstellationen und gesellschaftliche Verhältnisse ändern sich schnell. Lautstarke Aktionen von Act Up in den USA der 80iger Jahre können nicht zwingend in die Jetztzeit - und schon gar nicht auf die Situation anderen Gesellschaften - übertragen werden.

Auswirkungen auf UNAIDS und globale HIV-Arbeit

Christine Stegling (UNAIDS) wies während der Diskussion darauf hin, dass mehr als 70 % der weltweiten Finanzierung von HIV-Programmen aus den USA kommt. Der abrupte Rückzug hat zu Engpässen bei der Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten, zum Abbau von Testkapazitäten und zur erzwungenen Schließung von wichtigen HIV-Diensten geführt. UNAIDS drängt nun auf diversifizierte, nachhaltige Finanzierungsmechanismen, die das Engagement der Communities und deren Rechte aufrechterhalten.

Russland: erst geht es um Sprache, später um Überleben

Alexei Lakhov, langjähriger HIV-Aktivist aus Russland, beschrieb das harte Vorgehen Russlands gegen die Zivilgesellschaft durch die Auslöschung einer integrativen Sprache und die Kriminalisierung von Diensten für Schlüsselgruppen. Auf die Frage, ob er angesichts der Verhältnisse in den USA Alarmglocken gehört habe, sagt Alexei:

„Für diejenigen von uns, die in Russland Zensur erlebt haben – besonders im Bereich HIV und Menschenrechte – fühlen sich solche Entwicklungen wie ein Déjà-vu an, nur in schnellerem Tempo. In Russland war das Verschwinden bestimmter Begriffe eines der ersten Anzeichen für systemischen Druck auf die Zivilgesellschaft. Wörter wie ‚LGBT‘, ‚Schadensminderung‘ (harm reduction) und sogar ‚Gender‘ verschwanden nach und nach aus politischen Dokumenten, Förderaufrufen und öffentlichen Diskussionen. Diese semantische Säuberung machte es einfacher, Schutzmaßnahmen für ohnehin marginalisierte Gruppen abzubauen.

Also ja, die Alarmglocken haben geläutet – und sie läuten immer noch. Wenn eine Regierung beginnt, Begriffe wie ‚Gender‘ oder ‚Gleichheit‘ zu zensieren, geht es nicht nur um Semantik. Es ist ein politisches Signal. Es legitimiert Ausgrenzung und schafft einen fruchtbaren Boden für Diskriminierung, Kriminalisierung und Gewalt. Und wir haben gesehen, wie dieses Drehbuch sich entwickelt. Erst verschwindet die Sprache. Dann verschwinden Leben.

Die Auswirkungen solcher Zensurgesetze sind deutlich spürbar. Russland steht vor einer anhaltenden HIV-Krise mit über 1,1 Millionen registrierten HIV-positiven Personen und zehntausenden neuen Fällen jährlich. Doch Zensur, Stigmatisierung und Kriminalisierung machen es nahezu unmöglich, auf die Bedürfnisse der Schlüsselgruppen effektiv zu reagieren.

Gesetze wie das Verbot der sogenannten ‚Schwulenpropaganda‘ ab 2012, das Gesetz über ausländische Agenten und unerwünschte Organisationen (2012 bzw. 2015) sowie zuletzt die Einstufung der LGBT-‚Bewegung‘ als extremistisch, haben dazu geführt, dass zentrale Bevölkerungsgruppen – etwa schwule Männer, Drogenkonsumierende und Sexarbeiter*innen – von lebenswichtigen Diensten abgeschnitten wurden.“

Uganda - Legalisierte Verfolgung von LGBTIQ-Communities Schwulen

Shawn Mugisha berichtet, dass Ugandas Anti-Homosexualitätsgesetzgebung Angst, Stigmatisierung und Gewalt fördert. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird behindert, Peer Educators werden verhaftet, und die Bereitstellung von Dienstleistungen für LGBTQ+-Personen wird kriminalisiert. Diese Politik schadet nicht nur den lokalen Communities, sondern beeinflusst auch Nachbarländer Ugandas, diesem Beispiel zu folgen. Wir haben in der Vergangenheit auf die Auswirkungen der Gesetzgebung in Uganda widerholt einen Schwerpunkt gelegt.

Passende und unpassende Strategien

Lakhov auf die Frage, welche Strategien sich in Russland als wirksam erwiesen haben und wie er die Entwicklungen in den USA einordne:

„Zensur schafft ein Klima der Unsicherheit und Angst, in dem jedes Wort und jede Finanzierungsquelle unter Beobachtung steht. Der Planungshorizont vieler Organisationen hat sich auf ein Jahr oder weniger verkürzt. Einen Förderantrag zu schreiben ist keine rein technische Aufgabe mehr – es ist ein politisches Risiko. Die Verwendung von Begriffen wie ‚Gender‘, ‚gemeinschaftsgeleitet‘ oder sogar ‚Peer-Ansatz‘ kann einen Antrag als ‚verdächtig‘ erscheinen lassen.

Als Reaktion darauf mussten viele Organisationen in Russland:

Ihre Sprache bereinigen und jegliche Hinweise auf LGBTQ+-Personen, Drogenkonsumierende oder Sexarbeit vermeiden. So wurde zum Beispiel das ursprünglich als Forum der Transgender-Personen bekannte Projekt im Rahmen des Global Fund-Programms zum ‚Forum von Menschen mit Gender-Nonkonformität‘, und das MSM-Forum (Männer, die Sex mit Männern haben) wurde zum ‚Forum von Menschen mit riskantem Sexualverhalten‘ umbenannt.

Sie mussten Lobbyarbeit aufgeben und sich stattdessen auf die grundlegende Dienstleistungserbringung konzentrieren – etwa auf HIV-Tests und Zugang zur Behandlung – statt sich auf Schadensminderung, Gesetzesänderungen oder den Schutz der Rechte marginalisierter Gruppen zu fokussieren.

Sie agieren in rechtlichen Grauzonen und navigieren durch undurchsichtige bürokratische Hürden, nur um weiter existieren zu können.

Und dennoch: Trotz dieser Einschränkungen bestehen gemeinschaftsgeleitete Organisationen weiter. Sie dienen, passen sich an und setzen sich weiterhin ein – oft mit weniger Sichtbarkeit, aber weiterhin wirkungsvoll.“

Welche Strategie auch immer verfolgt wird. Es gibt rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen, um authentisch die Anliegen vertreten zu können:

  • Wir sind den Communities, die wir vertreten, verpflichtet und geben sie nicht auf: Dies auch, und insbesondere dann, wenn wir die Verwendung von Wörtern und Sprache, bspw. in Projektanträgen und in der Beschreibung unserer Tätigkeiten, politisch erlaubten Formulierungen anzupassen gezwungen sind, und es von außen betrachtet so aussehen mag, als ob wir mit der Regierung konform gehen würden und nicht genug tun, um der Regierung etwas entgegenzuhalten  
  • Keine Internalisierung der Zensur: Etwas offiziell nicht ausdrücken zu können, bedeutet nicht, es nicht denken zu dürfen! Um sich vor einer Internalisierung der Zensur zu schützen ist die Arbeit in Teams und die Kooperation mit Gleichdenkenden wichtig.
  • Zurückweisung der Kriminalisierung unserer Solidarität: Jegliche Kriminalisierung hat zum Ziel uns zum Schweigen zu bringen. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig miteinander in Kontakt zu bleiben. Wir haben eine Stimme. Unsere Vision von einer besseren Gesellschaft ist und bleibt die Triebfeder für die Verfolgung unserer Ziele, und nicht die Angst vor Vernichtung.
  • Diversifizierung der Finanzierung: dies ist wichtig, um die Abhängigkeit von den Priorisierungen (oder den Launen, Erpressungsversuchen etc.) von Geldgebern zu begrenzen. Die Finanzierung von Programmen muss deshalb auf breitere Beine gestellt werden, alternative Finanzierungsformen müssen gefunden werden.
  • Allianzen schmieden:  politische Auseinandersetzungen um Zensur und Sprachverbote betreffen nicht ausschließlich nur LGBTIQ+ Communities. Die Ausrichtung der Interessenvertretung muss deshalb Allianzen schmieden und über den LGBTIQ+-Sektor hinausgehen.

„Quo Vadis, Global Health?“ ist ein Aufruf zum Handeln. Communities auf der ganzen Welt, von Russland bis Uganda, widersetzen sich Repressionen und Mittelkürzungen mit Entschlossenheit und Klarheit. Das erfordert Mut! " Verantwortung zu übernehmen bedeutet, sich nicht mit Unsichtbarkeit als vermeintlicher Sicherheit abzufinden. Wir können unsere Taktiken anpassen, aber nicht unsere Werte.”, sagt Lakhov dazu.

Die öffentliche Gesundheit der Zukunft muss das Engagement der Communities, eine integrative Sprache und strukturelle Unterstützung in den Vordergrund stellen.

Peter Wiessner, Alexei Lakhov

Juni 2025

Aktionsbündnis gegen AIDS, 2025