Interview mit Tilman Rüppel
Globale Gesundheit am Scheideweg: Ein Gespräch über Verantwortung und Solidarität mit Fokus auf HIV und Aids

Die COVID-19-Pandemie hat weltweit erhebliche gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Folgen hinterlassen. Besonders betroffen sind Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen, die weiterhin darum kämpfen, widerstandsfähige Gesundheitssysteme aufzubauen. Dies hat direkte Auswirkungen auf die globale HIV- und Aids-Arbeit. Trotz jahrzehntelanger Fortschritte sind Millionen von Menschen weiterhin auf lebensrettende Medikamente angewiesen, und neue Herausforderungen erschweren die Erreichung der globalen Gesundheitsziele der Vereinten Nationen (SDG3). In einem Interview spricht Tilman Rüppel, Referent für politische Anwaltschaft bei medmissio, mit Peter Wiessner, Referent für Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit des Aktionsbündnis gegen AIDS, über die Auswirkungen der Pandemie auf die HIV/Aids-Arbeit, die Bedeutung internationaler Gesundheitsfinanzierung und die dringend notwendigen Schritte zur Eindämmung dieser globalen Epidemie.
Anlass des Interviews ist ein von Tilman Rüppel und Marwin Meier veröffentlichter Meinungsbeitrag zu dem Thema in internationalhealthpolicies.
Peter Wiessner: Tilman, die COVID-19-Pandemie hat die Gesundheitssysteme weltweit belastet und vor immense Herausforderungen gestellt. Welche Folgen hatte sie speziell für Menschen mit HIV und Aids?
Tilman Rüppel: Die Pandemie hat nicht nur eine beispiellose Gesundheitskrise ausgelöst, sondern auch massive wirtschaftliche Schäden verursacht – insgesamt etwa 13,8 Billionen US-Dollar. Diese wirtschaftlichen Verluste machen COVID-19 zur größten globalen Wirtschaftskrise seit einem Jahrhundert. Viele Länder mussten erhebliche Schulden aufnehmen, um die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen zu bewältigen. Besonders betroffen sind Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die nun vor noch größeren Herausforderungen stehen, das SDG3-Ziel bis 2030 zu erreichen.
Die Pandemie hat dabei nicht nur die allgemeine Gesundheitsversorgung unterbrochen, sondern auch massive negative Auswirkungen auf Menschen mit HIV und Aids gehabt. Lockdowns, überlastete Gesundheitssysteme und gestörte Lieferketten haben dazu geführt, dass viele mit HIV lebende Menschen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu lebenswichtigen antiretroviralen Medikamenten hatten. In einigen Regionen sind die HIV-Test- und Behandlungsprogramme fast zum Stillstand gekommen, was dazu führt, dass Neuinfektionen unentdeckt bleiben und in ihrer Anzahl zunehmen.
Welche weiteren ökonomischen Faktoren erschweren die Situation nach der Pandemie und welche langfristigen Auswirkungen hat die Unterbrechung der allgemeinen Gesundheitsversorgung auf die HIV/Aids-Arbeit?
Tilman Rüppel: Es gibt mehrere Faktoren. Zunächst haben wir die anhaltenden Störungen in den Lieferketten, die bereits im Zuge der Pandemie entstanden sind. Hinzu kommen der Krieg in der Ukraine, der eine globale Energie- und Nahrungsmittelkrise ausgelöst hat, und eine erhebliche Inflation. Diese Inflation ist weltweit gestiegen, nicht nur in Deutschland. Deshalb haben die Notenbanken die Zinsen erhöht, um die Inflation zu bremsen. Das macht es jedoch für Privatbanken schwieriger, Kredite aufzunehmen, was wiederum auch die Finanzierung von Staatshaushalten erschwert. Gerade in den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen fehlen nun die notwendigen Mittel, um in widerstandsfähige Gesundheitssysteme zu investieren.
Eine der größten Herausforderungen ist, dass wir durch die Pandemie Jahre an Fortschritt verloren haben. Die UN hatte sich das Ziel gesetzt, bis 2030 Aids als Bedrohung für die öffentliche Gesundheit zu beenden. Doch die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass wir uns davon entfernen, statt näherzukommen. Besonders betroffen sind vulnerable Gruppen wie Frauen, junge Mädchen und marginalisierte Communities, die bereits vor der Pandemie schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung hatten.
Im offiziellen Prüfbericht über den Fortschritt der SDGs wird die Notwendigkeit erhöhter Investitionen in Gesundheitssysteme betont. Gibt es konkrete Vorschläge, wie diese finanziert werden könnten?
Tilman Rüppel: Tatsächlich gibt es hierzu einen Ansatz, der schon vor über 20 Jahren entwickelt wurde. Im Jahr 2001 empfahl eine WHO-Kommission, dass die Länder der OECD-DAC 0,1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Gesundheitsunterstützung in einkommensschwachen Ländern bereitstellen. Dieses Ziel ist jedoch völlig veraltet, da weder die Pandemie noch die SDG-Agenda von 2015 damals berücksichtigt wurden. Mit dem Ende des globalen COVID-19-Notstands im Mai 2023 ist es dringend erforderlich, diese Zahl an die heutigen Realitäten anzupassen. Es gibt eine klare Notwendigkeit für eine verstärkte internationale Gesundheitsfinanzierung und eine Neuberechnung des Bedarfs.
Wir alle wissen, Zahlen sind geduldig. Was würde eine solche Neuberechnung konkret bringen?
Tilman Rüppel: Eine aktualisierte Zielmarke würde nicht nur die Bemühungen zur Erreichung von SDG3 und zur Beendigung der HIV/Aids Pandemie verstärken, sondern auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Pandemien erhöhen, die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels abmildern und globale Gesundheitsungleichheiten verringern. Zudem könnte sie als Vorbild für andere SDGs dienen, da Gesundheit eng mit Zielen wie Armutsbekämpfung, Bildung und Geschlechtergleichstellung verknüpft ist.
Welche Rolle kommt der WHO in diesem Prozess zu?
Tilman Rüppel: Die WHO sollte beauftragt werden, die Kosten zur Erreichung von SDG3 weltweit zu schätzen. Sie könnte analysieren, welche Beiträge einzelne Länder leisten können, und Finanzierungslücken für einkommensschwache Länder identifizieren. Eine solche Neuberechnung sollte idealerweise auf UN-Ebene verankert werden, um eine konsistente Umsetzung sicherzustellen. Langfristig müsste die finanzielle Unterstützung regelmäßig überprüft und an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Die WHO spielt eine zentrale Rolle bei der Koordination von Programmen und der Bereitstellung von evidenzbasierten Leitlinien. Sie könnte zudem eine Neubewertung der globalen finanziellen Bedarfe durchführen, um die Investitionen in die HIV/Aids-Arbeit anzupassen. In enger Zusammenarbeit mit der UN und anderen internationalen Organisationen muss sichergestellt werden, dass die notwendigen Mittel langfristig gesichert sind.
Der Bericht spricht auch von einem sogenannten "Replenishment Crunch". Was ist damit gemeint?
Tilman Rüppel: Der Begriff beschreibt die aktuelle Finanzierungskrise im Gesundheitssektor. Organisationen wie Gavi, der Globale Fonds oder der Pandemie-Fonds bereiten sich auf neue Finanzierungsrunden vor, doch die zugesagten Beträge bleiben hinter den Bedarfen zurück. Auch Geberländer wie Deutschland, Frankreich und Schweden kürzen ihre offiziellen Zusagen. Hinzu kommt eine extreme Unsicherheit im Hinblick auf das weltweit größte Geberland von gesundheitsbezogener Entwicklungszusammenarbeit, weil die USA unter dem neugewählten Präsidenten Donald Trump nicht nur starke finanzielle Einschnitte vornehmen, sondern ganze Behörden auflösen sowie aus wichtigen Organisationen wie der WHO austreten. Angesichts dieser Entwicklungen ist es umso wichtiger, eine klare Einschätzung über den tatsächlichen globalen Finanzbedarf zu erhalten.
Am Beispiel des Globalen Fonds wird dies besonders deutlich. Denn dieses multilaterale Finanzierungsinstrument zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria war in den letzten Jahrzehnten ein entscheidender Akteur im Kampf gegen diese Epidemien. Doch die aktuelle Finanzierungslücke bedroht viele Programme. Geberländer müssen ihre Verpflichtungen erfüllen und bestehende Finanzierungslöcher schließen, um sicherzustellen, dass keine Unterbrechung in der Versorgung mit Medikamenten und Behandlungen entsteht. Um besser zu verstehen, wie groß die Finanzierungslücken sind und welche Ressourcen zur Deckung des Bedarfs vorliegen, ist eine allgemeingültige Einschätzung durch ein Expertengremium nötig.
Und welche Schritte müssen konkret unternommen werden, um diese Finanzierungslücken zu schließen?
Tilman Rüppel: Es wäre wichtig, formelle Konsultationen unter den Mitgliedsstaaten der WHO zu initiieren. Gleichzeitig sollte die Unterstützung durch Gruppen wie die G7, G20 und UN-Organisationen gesichert werden. Eine Resolution der UN-Generalversammlung könnte der WHO das Mandat für eine Neuberechnung der 0,1-Prozent-Empfehlung erteilen und so politische Legitimität schaffen. Zudem wäre eine enge Zusammenarbeit mit der Weltbank, dem internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) notwendig, um realistische Bewertungsmethoden für die finanziellen Möglichkeiten von Geber- und Empfängerländern zu entwickeln.
Tilman, was ist deine wichtigste Botschaft im Hinblick auf SDG3?
Tilman Rüppel: Ohne ausreichende Finanzmittel bleibt die weltweite Umsetzung von SDG3 und das Ende von Aids als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit bis 2030 unerreichbar. Ein solides, neu berechnetes Finanzierungsziel und dessen Einhaltung kann nicht nur Millionen von Menschenleben retten, sondern auch globale Gesundheitsungleichheiten bekämpfen und die Resilienz gegenüber Pandemien und Klimawandel stärken. Wir müssen zügig handeln, um nachhaltige Gesundheitssysteme und universelle Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Dafür ist es jetzt an der Zeit, in die globale Gesundheit zu investieren und die Finanzierung deutlich zu erhöhen, anstatt sie zu kürzen!
Peter Wiessner: Tilman, vielen Dank für das Gespräch!
Aktionsbündnis gegen AIDS
Februar 2025
Kontakt: info@aids-kampagne.de