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Gastbeitrag von Ulrike Sonnenberg-Schwan

Europa: Gilt „Leaving no one behind“ nicht für Migranten und Migrantinnen?

Ein universeller Zugang zu HIV-Präventions-, Test- und Behandlungsangeboten besonders für Migrant*innen oder Menschen auf der Flucht, ist essenziell im Kampf gegen HIV. Leider ist dies oft nicht gegeben, auch nicht in Europa. Wir bedanken uns bei Ulrike Sonnenberg-Schwan für den interessanten Beitrag und bei Projekt Information in deren Publikation dieser Artikel zum ersten Mal erschienen ist.

Seit Jahren wird von UNAIDS, und anderen internationalen Organisationen „Leaving no one behind“ als wichtige globale Strategie in der Bekämpfung der HIV-Pandemie gefordert. Wie die Situation in Europa in der Realität aussieht, beschreibt Roger Pebody in einem aktuellen Beitrag für aidsmap.

Obwohl die Hälfte aller neuen HIV-Diagnosen bei Menschen gestellt wird, die in einem anderen Land geboren wurden, haben Migrant*innen/geflüchtete Menschen in ganz Europa weniger Zugang zu HIV-Präventions-, Test- und Behandlungsangeboten. In vielen europäischen Ländern liegen keine Daten über die Inanspruchnahme von HIV-Behandlungsangeboten durch Migrant*innen vor. Das kann dazu führen, dass mögliche Hindernisse für die Versorgung nicht beseitigt werden, wie aus Daten des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) hervorgeht.

Die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei im Ausland geborenen schwulen und bisexuellen Männern nimmt nicht ab, sondern zu. In vielen Ländern haben Migranten und Migrantinnen nur eingeschränkten Zugang zur HIV-Präventionstherapie PrEP.

Im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (zu dem alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen, Island und Liechtenstein, nicht aber die Schweiz und das Vereinigte Königreich gehören) wurden im Jahr 2021 42 % der Neudiagnosen bei Menschen gestellt, die im Ausland geboren wurden. Davon stammen 14 % aus Afrika südlich der Sahara, 11 % aus Lateinamerika und der Karibik, 8 % aus anderen Ländern Mittel- und Osteuropas und 3 % aus anderen Ländern Westeuropas.

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 stieg der Anteil der Neudiagnosen bei Migrant*innen auf 52 %. Der Anteil der Diagnosen bei Personen aus anderen Teilen der Welt hat sich zwischen 2021 und 2022 kaum verändert, aber der Anteil der in Mittel- und Osteuropa Geborenen ist von 8 % auf 23 % gestiegen.

Dieser Anstieg betraf vor allem, aber nicht ausschließlich, in der Ukraine geborene Personen. Während im Jahr 2021 nur 1,2% der Neudiagnosen im Europäischen Wirtschaftsraum auf in der Ukraine geborene Personen entfielen, waren es im Jahr darauf bereits 10,2% (oder 2.338 Personen). Besonders betroffen sind Länder wie Polen, Estland und die Slowakei.

Doch schon lange vor der ukrainischen Flüchtlingskrise war der Bedarf an HIV-Prävention bei Migrant*innen auf dem gesamten Kontinent nicht gedeckt. Betrachtet man die Daten von 2012 bis 2021, so ist die Zahl der Neudiagnosen bei schwulen und bisexuellen Männern, die in ihrem Geburtsland leben, um 34 Prozent zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum stiegen die Diagnosen bei im Ausland geborenen schwulen und bisexuellen Migranten um 36%. (Bei heterosexuellen Männern und Frauen war dieser Unterschied nach Geburtsland nicht zu beobachten).

In den letzten zehn Jahren haben zahlreiche Studien gezeigt, dass sich ein erheblicher Anteil der neu diagnostizierten Migrant*innen wahrscheinlich im Aufnahmeland und nicht im Geburtsland mit HIV infiziert hat. Der Zeitpunkt der Infektion wurde anhand der CD4-Zellzahl zum Zeitpunkt der Diagnose, medizinischer Aufzeichnungen und Angaben der Betroffenen zu ihrem Sexualverhalten vor und nach der Migration geschätzt. Eine kürzlich durchgeführte Studie über im Ausland geborene schwule und bisexuelle Männer, die mit HIV in Frankreich leben, kam zu dem Ergebnis, dass sich 62 % von ihnen nach ihrer Ankunft in Frankreich mit HIV infiziert hatten. Männer aus Nordafrika und Asien hatten ein höheres Risiko, sich in Frankreich mit HIV zu infizieren, als Männer aus anderen Teilen der Welt.

Daraus folgt, dass HIV-Präventionsangebote für Migrant*innen in europäischen Ländern zugänglich sein müssen - insbesondere für diejenigen, die erst vor kurzem eingereist sind. Die Programme dürfen sich nicht auf das Screening von Neuankömmlingen beschränken, sondern müssen einen kontinuierlichen Zugang zur HIV-Prävention bieten.

Das ECDC berichtet jedoch, dass von den 22 Ländern in Europa, die im Jahr 2022 PrEP (regelmäßige Einnahme von Medikamenten zur Verhinderung einer HIV-Infektion) über ihr Gesundheitssystem zur Verfügung stellten oder erstatteten, nur acht Länder Daten über die Inanspruchnahme von PrEP zugänglich machten.

In Großbritannien gab es die meisten im Ausland geborenen PrEP-Nutzer (4641), die jedoch nur 7,6 % aller PrEP-Nutzer des Landes ausmachten. Die Niederlande schnitten mit 3306 im Ausland geborenen PrEP-Nutzern – einem Drittel aller Anwender*innen - wesentlich besser ab. In Portugal (168), der Tschechischen Republik (89) und Zypern (4) waren die Zahlen deutlich niedriger. Kirgisistan, Moldawien und die Ukraine meldeten jeweils null im Ausland geborene PrEP-Nutzer, während die relativ großen PrEP-Programme in Frankreich, Deutschland, Spanien und Belgien die Nutzung durch Migrant*innen nicht erfassten.

In ähnlicher Weise konnten Experten aus nur zehn Ländern dem ECDC berichten, mehr als 30 % der im Ausland Geborenen durch Kondomprogramme erreicht wurden. 18 Länder nannten diesen Abdeckungsgrad für Tests auf sexuell übertragbare Infektionen. Aus anderen Ländern lagen keine Daten vor.

Kaum ein Land überwacht die Fortschritte bei der HIV-Versorgung nach Migrationsstatus. Von den 55 Ländern, die an das ECDC berichteten, verfügten nur vier über Daten für das gesamte Kontinuum (Anm.: Testung, Prävention, Behandlung). Sieben weitere Länder konnten nur Daten für einige Stadien zur Verfügung stellen.

Großbritannien verfügt über entsprechende Daten und scheint die 95-95-95-Ziele für Migrant*innen zu erreichen. Schätzungsweise 96 % der mit HIV lebenden Migrant*innen sind diagnostiziert worden, 99 % von ihnen befinden sich in Behandlung und 97 % der Behandelten haben eine Viruslast unter der Nachweisgrenze.

Im Gegensatz dazu hat die Tschechische Republik ein echtes Problem mit nicht diagnostizierten Infektionen, schneidet aber beim Zugang zur Behandlung besser ab - die Ergebnisse liegen bei 65-91-98. Im Nachbarland Österreich scheint es schwierig zu sein, die Virussuppression aufrechtzuerhalten - die Ergebnisse liegen bei 94-90-67.

In sieben Ländern bekommen Migrant*innen ohne Papiere keine PrEP, in sechs Ländern können sie keinen HIV-Test machen und in neun Ländern haben sie keinen Zugang zu einer HIV-Behandlung. Zu den Ländern, die den Zugang zur HIV-Behandlung einschränken, gehören Österreich, die Tschechische Republik, Finnland und Griechenland.

Das ECDC schließt, dass der universelle Zugang zu HIV-Prävention, -Tests und -Behandlung entscheidend ist, um die Neuinfektionen bis 2030 zu stoppen. Empfohlen werden neben der Verbesserung von Datenlage und Monitoring Präventions- und Gesundheitsangebote, die sowohl für neu angekommene als auch bereits länger im Land lebende Migrant*innen und für Menschen ohne Papiere zugänglich sind. Neben zielgruppenspezifischen Kampagnen sei es außerdem wichtig sich damit auseinanderzusetzen, wie gesellschaftliche Einstellungen und die Gesetzgebung gegenüber Migrant*innen sich auf deren Bereitschaft auswirken könnte, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.

Quelle: Bearbeitete Übersetzung von Pebody R. Migrants being left behind by the HIV response in Europe. www.aidsmap.com, 19. Januar 2024

Foto: Ulrike Sonnenberg-Schwan

Aktionsbündnis gegen AIDS, 2025