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Umgang mit Verschwörungserzählungen zu HIV und COVID-19

Du glaubst wohl auch alles, was in der Zeitung steht!?

Todesspritze - wiessner

Im März waren wir zu den Münchner AIDS und COVID-Tagen zu einem Vortrag über den Umgang mit „Verschwörungstheoretiker*innen“ eingeladen. Diese Einladung kam überraschend und ist wahrscheinlich das Ergebnis der Schriftenreihe „IM FOKUS“ mit wir als Aktionsbündnis gegen AIDS mit Kolleg*innen in bisher 5 Ausgaben auf Zusammenhänge zwischen HIV und COVID-19 eingehen und dabei die Frage stellen, welche Erfahrungen aus der Arbeit mit HIV für die Auseinandersetzung mit COVID-19 hilfreich sein könnten.

Parallelen zwischen HIV und COVID-19

Parallelen gibt es einige: Schutzmaßnahmen; Testpolitiken; die Diskussion um die Aussetzung geistiger Eigentumsrechte der Pharmaindustrie in Bezug auf den Zugang des globalen Südens zu Medikamenten und Impfstoffen; Umgang mit Schutzmaßnahmen, wie Isolation und Quarantäne; die Diskussion um Ursprungsmythen, wie bspw. die des „patient zero“; mit Schuldzuweisungen; den Umgang mit Schlüsselgruppen; Diskriminierungspotentiale und Rassismen: Begriffe und Zuschreibungen, wie die der „Schwulenseuche“ und dem „China-Virus“ sind hier durchaus miteinander vergleichbar.

Weitere Parallelen existieren zwischen Aids- und COVID-19 Leugner*innen, deren Absichten und sich dahinter verbergende Geschäftsmodelle: die Bezeichnung überlebensnotwendiger HIV-Therapien als „hochgiftige Chemo-Keulen“ zum Absatz von Vitaminpräparaten (Matthias von Rath) oder COVID-19 Impfstoffe als „Todesspritzen“ sind eine unübersehbare Parallele. Dass die südafrikanische Regierung unter Präsident Mbeki den „Theorien“ dem Aids-Leugnern unter Peter H. Duesberg glauben schenkten, demnach es keinen Zusammenhang zwischen HIV und Aids gebe und HIV-Therapien gefährlich seien, war angesichts der damaligen HIV-Prävalenz von 20% unter der südafrikanischen Bevölkerung dramatisch und in der Bedeutung durchaus vergleichbar mit der Verleugnung der Gefahren und Schutzmöglichkeiten gegen COVID-19 durch den Präsidenten Trump aus den USA oder Faschisten Bolsonaro aus Brasilien.

Nicht Einsicht, sondern Gerichtsentscheide bewirkten Veränderungen

Hunderttausende von Menschenleben konnten in der Folge nicht gerettet werden, weil sie den Erzählungen derer Glauben schenkten, die daraus entweder Unterstützung für ihre Politik erhofften oder ihr Ansehen und ihr Einkommen daraus gerierten: dem Stuttgarter Arzt Matthias von Rath musste gerichtlich untersagt werden, seine Vitaminpräparate als wirksam gegen HIV zu verkaufen; die damaligen Regierung Südafrikas wurde gerichtlich verfügt HIV-Medikamente zur Verfügung  zu stellen; der Medienstar, rechtsradikale Vegan-Koch und Corona-Leugner Attila Hildmann entzog sich einem anstehenden Strafverfahren durch seine Flucht in die Türkei. Ob er sein Geschäftsmodell von der Türkei aus weiterverfolgt, ist unbekannt. Die gegebenen Beispiele sind wenig ermutigend: nicht die Einsicht, dass man sich in etwas verrannt hatte, erwirkten eine Veränderung, sondern Gerichtsentscheide, die erzwungen werden mussten.

Dass aus den existierenden Parallelen zwischen HIV und COVID-19 Schlüsse gezogen worden wären und sich die HIV-Bewegung verstärkt in die Diskussion eingebracht hätte, kann man nicht wirklich behaupten. COVID-19 wurde und wird global vor allem hinsichtlich der Auswirkungen auf HIV-Programme und auf Menschen mit HIV diskutiert, nicht jedoch in Bezug auf die Frage, welche Erfahrungen und Standards die HIV-Bewegung einbringen könnte. Beispiele für die Anwendung gäbe es einige: so wird die Einbindung sog. Schlüsselgruppen in Programmimplementierung und -Umsetzung zwar als ein „Goldstandard“ erfolgreicher HIV-Arbeit geschätzt: Drogengenbrauchende, Schwule, LGBTI Communities, Migrant*innen, Frauen. Für sie alle gilt: „nothing about us, without us“. Allerdings werden daraus kaum Schlussfolgerungen gezogen: Für den COVID-19 Bereich fände der Standards seine Entsprechung in der Einbindung von Senior*innen, von Mitarbeiter*innen in der Pflege- oder der Betreuungseinrichtungen, Vor-Ort Arbeiter*innen in der Streetwork etc. Eine Übertragung wichtiger Grundprinzipien hat nihct stattgefunden, zumindest ist mir nicht bekannt, dass sie als „best-practice-examples“ wirklich eingefordert worden wären. So haben die Fürsprecher*innen der globalen HIV-Arbeit versäumt ihre Perspektive in den Diskurs zu Maßnahmen gegen COVID-19 einzubringen.  Das ist schade und bedenklich.

„Verschwörungstheorien“?

Den Begriff „Verschwörungstheorien“, der im Zusammenhang mit Aids- und COVID-19 Leugner*innen manchmal genannt wird, ist abzulehnen: es handelt sich bei Verschwörungserzählungen um keine Theoriebildung, sondern um Glaubenssätze: Ein Erkennungsmerkmal der Theoriebildung besteht darin, dass sie sich auf Fakten beruhen, die wissenschaftlich überprüft, angepasst, bestätigt, widerlegt und verworfen werden können, wenn neue Fakten der Theorie widersprechen.

Verschwörungserzählungen können sich zwar ebenfalls auf Fakten und Beobachtungen beziehen, die Verbindungen und Kausalität zwischen den Beobachtungen und Schlussfolgerung sind jedoch frei erfunden: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Dunststreifen von Flugzeugen („chemtrails“) mit der „Vergiftung“ oder „Infiltrierung“ der Bevölkerung. Auch gibt es keinen Zusammenhang zwischen der COVID-19 Impfung, der behaupteten „Vergiftung“ der Bevölkerung oder der geheimen Implantierung von Mikrochips durch Bill Gates.

Gates ist auch ein Christ und nicht Jude, wie durch offensichtlich antisemitische Verschwörungsgläubige wiederholt behauptet wird. Die genannten Beispiele verdeutlichen was durch Verschwörungserzählungen erreicht werden soll: sie dienen der Diskriminierung von Gruppen, der Unterminierung des Rechtsstaates, der (rechten) Propaganda und dem Absatz von Produkten.

Willkommen in der Corona-Diktatur: „Hoax“, „Fake News“ und „Verschwörung“

Eine Verschwörung ist eine Konspiration oder auch ein Komplott, sie richtet sich immer gegen etwas. Dabei kann es gut sein, dass die Person, die der Verschwörung anhängt, kein Bewusstsein über die Falschheit der Information hat, auf die sie sich bezieht.

Dies ganz im Gegensatz zu „Fake News“, bei denen es sich um bewusste Fälschungen handelt oder um einen „Hoax“ (Aprilscherz), der frei erfunden ist.

Verschwörungserzählungen beziehen sich in der Regel auf ein verborgenes und von wenigen Auserwählten bekanntes (Geheim-) Wissen, einen durch unbekannte „Drahtzieher“ gesteuerten Komplott, ein Wissen das, da es verborgen ist, nicht überprüft und belegt werden kann. Beispiele aus der Geschichte gibt es viele: sie reichen, wie der Diskurs zu COVID-19 belegt, bis in die Jetztzeit und werden politisch instrumentalisiert: das Narrativ der Verschwörung des „Weltjudentums“; globale Absprachen zur Wissenskontrolle; das hirnlose Gebrüll von der „Lügenpresse“; die Warnungen vor einer hervorstehenden „Corona-Diktatur“ etc.  

Verschwörungsgläubige hoffen und arbeiten hin auf eine Zeit, in der die „Verschwörung“ aufgedeckt werden wird: es wird sich dann zeigen, wer auf der „richtigen“ und auf der „falschen“ Seite der Geschichte steht. Verschwörungserzählungen richten sich immer gegen etwas: den Staat bzw. dem „Deep state“ (Trump); den (korrupten) Eliten; generell den „da Oben“; der Pharmaindustrie („Big Pharma“); gegen andere Völker und Ethnien, etc. Am Beispiel von COVID-19 sehen wir weltweit, wie sehr diese Erzählungen politisch ausgeschlachtet werden können: in Deutschland ist es vor allem die AfD, die sich hier hervortut.  

Du glaubst wohl auch alles, was in der Zeitung steht?

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen ist schwierig, da sie auf Glaubenssätze und Gut-Böse Schemata beruhen: der Verschwörungsglaube bewirkt, dass Versuche der Aufklärung durch sachgerechte Information als Angriff erlebt und entsprechend verteidigt werden: „du glaubst wohl auch alles, was in der Zeitung steht!?“, wäre so ein Spruch der einem dann provozierend entgegengeworfen werden könnte. Entgegengebrachte Argumente bestätigen dann lediglich, dass sich die umgebende Welt „verschworen“ hat.

Wir und die Anderen

Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen sind darin durchaus Sektenanhänger*innen vergleichbar: eine Mitgliedschaft wirkt Identitätsstiftend, sie definiert das „wir“ in Abgrenzung zu den „anderen“.  Die Auswirkungen können bei Anti-Corona-Demonstrationen beobachtet werden, sie sind manchmal antisemitisch geprägt und werden zunehmend von rechtsnationalen, gegen „die CORONA-Diktatur“ kämpfenden Kräften unterwandert. Kräfte, von denen man durchaus ausgehen kann, dass sie die Sorge um die Pandemie nur als Vehikel benutzen, um andere politische Zwecke zu verfolgen.

Identitätsstiftend sind auch die dazugehörigen Accessoires: Aluhüte, zum Schutz vor geistiger Einflussnahme und entsprechende Banner: der Spruch „WWG1WGA“ (Where we go on, we go all: übersetzt etwa: „wir folgen dem Führer“), propagiert durch die rechtsradikale Q-ANON („anyonyme Fragensteller“) Verschwörungs-Bewegung aus den USA, die sich im Zuge der COVID-19 Pandemie auch in Deutschland verbreitet hat und die den Ex US-Präsidenten Donald Trump zu ihrer Führungsfigur stilisierte: 

Wenn ihre CORONA Leugner*innen und Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen, wie vor wenigen Tagen in Berlin beobachtet, auf ihren Demonstrationen zu 70iger Jahre Hits wie „staying alive“ (am Leben bleiben) auf den Straßen tanzen, ist das wenig empathisch und gegenüber den in der Pandemie Verstorbenen und ihren Angehörigen und Freunden eine Zumutung.

Zur Auseinandersetzung mit Verschwörungsanhänger*innen

Wie kann man Personen erreichen, die sich in ihre Verschwörungserzählungen komplett verrannt haben und durch die Realität nicht mehr erreichbar sind? Eine Möglichkeit der Hilfestellung zum Ausstieg wird immer auch davon abhängen, wie verfestigt sich der Glaube bereits hat, wie eng sich die Person an seine Glaubens- oder Ideologiegemeinschaft gebunden fühlt, aber auch, wie sich die Beziehung zu der Person gestaltet, die Hilfe anbieten möchte.

Wer in eine Auseinandersetzung mit Verschwörungsanhänger*innen treten möchte, tut gut daran sich vorher zu überlegen, ob seine oder ihre Energie und Zeit dafür ausreicht und ob der Aufwand lohnt. In Betracht gezogen werden sollte auch, ob man die passende Person für eine entsprechende Auseinandersetzung ist: so macht es einen Unterschied, ob man der Person nahe oder fern steht, sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, ob es sich um Freund*innen, Familienmitglieder, um Arbeitskolleg*innen, Patient*innen etc. handelt.

Sich von identitätsstiftenden Glaubensinhalten zu verabschieden braucht Zeit! Wie lange dies dauern kann, belegt die Bestrebung der Entnazifizierung Deutschlands, die, wie wir alle wissen, in einigen Regionen und Köpfen auch mehr als 70 nach Kriegsende noch nicht abgeschlossen ist. Man wird Verschwörungsanhänger*in nicht durch Zufall und auch nicht über Nacht: meist ist dies ein längerer Prozess und es ist gut, wenn man im Gespräch dazu kommt, die dahinterliegende Problematik oder den Nutzen für den Einzelnen zu erfassen.

Eine entsprechende Auseinandersetzung kann sich emotional, manchmal auch als Kampf, gestalten: aus dem Blickwinkel des/der Verschwörungsanhänger*in wird letztendlich versucht etwas Identitätsstiftendes wegzunehmen. Die Frage wäre auch hier, ob man bereitsteht und die Energie aufbringt, für das Weggenommene Alternativen anzubieten, bzw. den darauffolgenden Prozess mitzugestalten und zu begleiten.

Wenn es um medizinische Fachfragen geht ist sicher auch wichtig zu klären, ob man die fachliche Kompetenz für entsprechende Auseinandersetzungen mitbringt: Duesburg Anhänger*innen hatten durchaus Argumente, die detailliert zu widerlegen umfangreiches medizinisches Wissen erfordert.    

Das Wichtigste ist sicherlich eine Kommunikation auf Augenhöhe: das Gegenüber als „dumm“ zu bezeichnen oder Ansichten als „lächerlich“ herabzusetzen ist für eine Auseinandersetzung ganz gewiss nicht hilfreich.

Eine gemeinsame Überprüfung der Quellen und Texte auf die sich Aussagen beziehen kann hilfreich sein, aber auch sie ist arbeitsaufwendig und führt möglicherweise zu Aggression, wenn sich das Gegenüber in die Enge gedrängt fühlt.  

Für die Auseinandersetzung ist es sicher auch wichtig, Grenzen zu ziehen und zu markieren: bei mir wäre die Grenze dann erreicht, wenn antisemitische, rassistische oder nationalistische Erklärungsmuster zu Tage treten. Bei andren sind es möglicherweise Ansätze, die die Schulmedizin oder Wissenschaft verlassen: ein „bis hierher und nicht weiter!“ kann das Ende der Auseinandersetzung bedeuten, einen harmonischen Nachmittag in familiärer Kaffeerunde stören aber auch der Beginn eines echten Austauschs im gegenseitigen Respekt.

Es gibt umfangreiche Materialien die für entsprechende Auseinandersetzungen herangezogen werden können. Einige wenige Quellen sind unten genannt.  

Quellen:

  • Giulia Silberberg, Rüdiger Reinhard: Verschwörungsideologien und Fake News erkennen und widerlegen
  • Antisemitismus im Kontext der COVID-19-Pandemie, RIAS e.V (Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus
  • AJC Berlin Ramer Institut: Antisemitische Verschwörungsmythem in Zeiten der Corona Pandemie
  • IM FOKUS. Mythen und Pandemien, Lehren aus Narrativen zu HIV und SARS-CoV-2, Aktionsbündnis gegen AIDS, 2022
  • Peter Wiessner: Vom Umgang mit Verschwörungsmythen und ihren Anhänger*innen, Münchner AIDS und COVID-Tage, Vortrag, 26.03.2022

Peter Wiessner

Kontakt: wiessner@aids-kampagne.de

19.04.2022

Aktionsbündnis gegen AIDS, 2024