IM FOKUS: Mythen und Pandemien - Lehren aus Narrativen zu HIV und SARS-CoV-2
Für eine Ausrichtung der Maßnahmen an Menschenrechten und modernen Ansätzen von Gesundheitsförderung
Mit unserer neuen Ausgabe der Schriftenreihe IM FOKUS beschäftigen wir uns mit Mythenbildungen, Narrativen und Verschwörungsphantasien rund um COVID-19 und welche Lehren aus der Geschichte mit HIV auf COVID-19 übertragen werden können. Die Corona-Pandemie ist weit mehr als ein medizinisches Phänomen. Effiziente Maßnahmen zur Überwindung müssen auf einer breiten wissens- und erfahrungsorientierten interdisziplinären Analyse beruhen. Der derzeitige Alltag ist geprägt von Fragen, Unsicherheiten und Widersprüchen bei Wissenschaftler*innen, Gesundheitsexpert*innen, Politiker*innen und in der Gesellschaft. Wir alle müssen uns um einen breiten Konsens zur Überwindung der globalen COVID-19 Pandemie bemühen. Mit unseren Publikationen IM FOKUS wollen wir Diskussionen anregen und Meinungsbildung fördern: Wir schreiben vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen aus der HIV-Arbeit. Es geht uns nicht darum, COVID-19 mit HIV gleichzusetzen, sondern um eine Diskussion der Frage, welche Erfahrungen aus der HIV-Arbeit für die Auseinandersetzung mit COVID-19 hilfreich sein könnten. Wir wollen keine wissenschaftlichen Abhandlungen ersetzen, noch können wir den derzeitigen Wissensstand umfassend und abschließend darstellen
Mythen über Viren im Vergleich: eine Entladung kollektiver Phantasie
Die Geschichte der Menschheit ist verbunden mit immer wiederkehrenden, massenhaften Ausbreitungen von unterschiedlichsten Infektionserregern. Die Schreckens- und Untergangsszenarien, die mit dem “schwarzen Tod”, der Pest im Mittelalter, verbunden werden, wirken bis heute nach. Die Geschichte lehrt uns, dass damit nicht nur individuelles Leid und vorzeitiges Ableben verbunden sind, sondern auch tiefgreifende soziale, (macht)politische und sogar kulturelle Veränderungen. Solche schicksalhaften Transformationen fördern vielfältige Ängste, z.T. unbegründete Abwehrreaktionen sowie emotionsgeladene Schuldzuweisungen. Erst die Fortschritte von Naturwissenschaften, öffentlicher Gesundheit und Medizin haben es ermöglicht, Erreger und ihre vielfältigen Eigenschaften zu bestimmen, spezifische Gegenmaßnahmen zu entwickeln und die Wirksamkeit der Maßnahmen im Einzelfall oder in Bezug auf die Ausbreitung in der Bevölkerung zu messen. Doch dieser naturwissenschaftliche und lösungsorientierte Ansatz braucht Zeit. Zusätzlich zu den Naturwissenschaften brauchen wir die Human-, Gesellschafts- und Politikwissenschaften, um Antworten auf die soziokulturellen oder politischen Prozesse in eine umfassende Antwort einbinden zu können.
HI-Viren und SARS-CoV-2 unterscheiden sich in vielfältiger Weise. Es bedarf keines Studiums, um grundsätzliche Unterschiede zu erkennen. Dennoch scheint uns, dass bei vielen Gelegenheiten das Offensichtliche hinter subjektiver Wahrnehmung zurückzutritt. Eine solche - bewusste oder unbewusste - Nichtbeachtung der Unterschiede ist der erste Schritt zur Bildung von Mythen. Bei Mythenerzählungen geht es nicht um Klärung von objektivierbaren Fakten, sondern um die Verbreitung von Phantasien und irrationalen Narrativen. Durch Mythen sollen Lebensrealitäten und Wahrnehmungen erklärt werden, die schwer zu fassen oder durch die Wissenschaft noch nicht abschließend geklärt sind. In Bezug auf Infektionskrankheiten stehen Mythen und Narrative einer naturwissenschaftlichen Analyse absolut entgegen. Noch bevor die Wissenschaft abschließend Antworten gefunden hat, müssen gesellschaftliche Antworten gegeben werden. In diesem Augenblick konkurrieren Mythen und Wissenschaft um die Deutungshoheit und den Einfluss auf die Gesellschaft. In der HIV-Arbeit haben wir gelernt, dass das gesellschaftliche Verhalten selbst wieder zu einem Faktor werden kann, die die Ausbreitungsbedingungen für einen Infektionserreger fördert. Das gleiche Phänomen beobachten wir erneut bei SARS-CoV-2 und dem gesellschaftspolitischen Umgang mit von Corona-betroffenen Menschen.
Manch einer wird sich in diesem Zusammenhang noch an die konfliktreiche Auseinandersetzung der 80er Jahre rund um das damals neue HI-Virus erinnern. Wie bei einem Déjà-vu wiederholen sich die damals geführten Diskurse in aktuellen Diskussionen. Überwunden geglaubte Narrative und Reaktionsweisen brechen wieder auf. Wir halten es deshalb für notwendig, Parallelen z.B. in Bezug auf Ursachen und Marginalisierungen in den Narrativen und Mythen über HIV und SARS-CoV-2 aufzuzeigen, um daraus Folgen und unsere Forderung abzuleiten.
An dieser Stelle herzlichen Dank an unsere Kollegen Klemens Ochel und Gerhard Schwarzkopf, die an der Entwicklung des Textes mitgewirkt haben
Mehr dazu lesen Sie in der Publikation, die wir hier und in unserer Mediathek zum Download bereitstellen