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Gefährlich und menschenverachtend - Russlands repressive Drogenpolitik

Interview mit Alexander Delfinov über Gefahren und Folgen einer im höchsten Maße bedenklichen Gesundheitsversorgung Drogengebrauchender in Osteuropa

Drogenpolitik in Russland Interview mit Alexander Delfinov über Gesundheitsversorgung Drogengebrauchender Osteuropa

Während die Zahlen der HIV- und Hepatitis-C-Neuinfektionen in Russland weiter steigen, wird die Prävention gerade unter den besonders gefährdeten Drogengebrauchenden immer schwieriger. Der Journalist und ehemalige Mitarbeiter der Andrey-Rylkov-Stiftung Alexander Delfinov über die restriktive Drogenpolitik in Russland und die Entwicklungen in der Ukraine.

Alexander Delfinov engagiert sich bereits seit 1998 für eine bessere gesundheitliche Versorgung von Drogengebraucher_innen in Russland, unter anderem als Mitbegründer der Drogenaufklärungsinitiative "Narcophobia“.  Auch in der Andrey-Rylkov-Stiftung ist Delfinov aktiv. Diese setzt sich nicht nur für Substitutions- und Schadensminimierungsprogramme ein, deren Aktivist_innen sind auch als Streetworker_innen unterwegs, um Hilfesuchende zu unterstützen. Seit 2014 hat der Journalist aufgrund der veränderten politischen Situation in Russland seinen Wohnsitz ganz nach Deutschland verlegt und unterstützt die Harm-Reduction-Initiativen in seiner Heimat von hier aus durch Kommunikations- und Aufklärungsarbeit.

Alexander Delfinov, in den westlichen Medien wurden in jüngster Zeit verstärkt die steigenden Zahlen an Drogenkonsumentinnen und auch HIV-Fälle thematisiert. Ist die Dramatik dieser Berichterstattung gerechtfertigt?

Hauptanlass für das besondere mediale Interesse beispielsweise auch in Deutschland war die Nachricht, dass Anfang des Jahres der Millionste HIV-Patient seit Beginn der Aidskrise in Russland registriert wurde. Rund 250.000 davon sind bereits verstorben. Es gibt allerdings keine wissenschaftlichen Studien darüber, wie viele Menschen im Land leben, ohne von ihrer HIV-Infektion zu wissen. Russland hat zudem mittlerweile auch eine Hepatitis-C-Epidemie, doch darüber spricht niemand, weil es keine internationalen Verpflichtungen gibt, hier offizielle Zahlen zu ermitteln. Die Behörden gehen derzeit von ungefähr 1,7 Millionen Menschen mit Hepatitis C aus, realistisch sind allerdings eher 6 Millionen.

Haben Hepatitis-C-Infizierte Zugang zu einer Behandlung?

Es gibt kein staatliches Behandlungsprogramm, wie dies bei HIV der Fall ist. Das liegt sicherlich auch an den weitaus höheren Kosten. Lediglich HIV-Infizierte haben einen Anspruch auf eine kostenfreie Hepatitis-C-Behandlung – allerdings mit Interferon, also mit einem längst veralteten Medikament. Es kann zudem Wochen, manchmal gar Monate dauern, bis jemand mit Anspruch auf diese Behandlung, tatsächlich auch die Therapie beginnen kann.

Aber auch andere Mehrfachinfektionen – Tuberkulose und HIV bzw. Tuberkulose, Hepatitis C und HIV – sind keine Seltenheit. Diese Patient_innen, es handelt sich meist um Drogengebrauchende, landen dann beispielsweise in einem Krankenhaus, wie ich es in Jekaterinburg besucht habe. Sie werden dort nicht behandelt, sondern werden dorthin abgeschoben, um zu sterben. Im Volksmund wird diese Klinik deshalb auch "Die letzte Hütte" genannt.

Wie sehen denn die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus, unter denen Drogenhilfe-Projekte wie die Andrey-Rylkov-Stiftung aktuell arbeiten?

Wir sind zum einen mit einer im höchstem Maße repressiven Drogenpolitik konfrontiert, und zum anderen mit Gesetzen, durch beispielsweise die Verbreitung von Harm-Reduction-Informationen, die in die Nähe der – verbotenen – „Propaganda für Drogenkonsum“ rückt. Jede Veranstaltung, jede Broschüre kann so zu Repressionen, Schikane oder Geldstrafen führen. In Russland sind derzeit 626.000 Menschen in Haft, ein Drittel davon Drogenkonsument_innen, die als Dealer verurteilt wurden. Dazu reichen inzwischen bereits kleine Mengen an illegalen Substanzen aus.

Die Drogenphobie reicht so weit in die Gesellschaft hinein, dass die Drogengebrauchenden selbst die Unterstützung in ihrer eigenen Familie verlieren. Neben der „Narcophobia“, wie wir das bezeichnet haben, dieser durch staatliche Propaganda gezielt geschürten Angst vor Drogenkonsument_innen, sind da auch noch all die Verschwörungstheoretiker_innen und Aidsleugner_innen, die die Situation zunehmend erschweren.

In den 90er Jahren gab es wenigstens noch die Hoffnung, dass sich die Situation verbessern würde. Inzwischen erleben wir, dass sie sich zunehmend verschlechtert. Das zeigt sich auch an anderen Entwicklungen:  Wir haben das Gesetz gegen die Homosexuellenpropaganda und eines, das von russischen Nichtregierungsorganisationen wie der Andrey-Rylkov-Stiftung verlangt, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen, wenn ihre Projekte mit Geldern aus dem Ausland mitfinanziert werden. Und seit kurzem gibt es ein vergleichbares Gesetz, das sich gegen Medien mit ausländischen Miteigentümern richtet.

Welchen Einfluss hatte dieses politische Klima auf den Anstieg der HIV-Zahlen?

Die rapide Zunahme von HIV-Fällen begann 2010. Durch angemessene Präventionsmaßnahmen hätte das gestoppt werden können. Doch mit Beginn der Putin-Ära erlebten wir eine weitreichende Veränderung der politischen Agenda. In deren Mittelpunkt steht die Wirtschaft, nicht aber soziale Fragen. 57,3 % der neu registrierten HIV-Fälle betreffen Drogenkonsument_innen. Das sind Menschen, wie auch die Schwulen, die dieses System nicht benötigt. Es wird zwar offiziell nicht gesagt, aber dies ist der Grund, warum Schadensminimierungsprogramme und Präventionsmaßnahmen von Staatsseite nicht so gefördert werden, wie es notwendig wäre. Man ist im Grunde froh, wenn diese Leute langsam aussterben. Das ist eine menschenverachtende Politik der Vernichtung jener für HIV besonders vulnerablen Gruppen.

Ich bin mir sicher, dass es innerhalb der administrativen Strukturen oder beispielsweise auch in den Krankenhäusern viele Menschen mit Verstand und mit einer auf Humanität basierenden Weltanschauung gibt. Derzeit aber haben ganz andere Leute die Macht, und deshalb erleben wir in Russland gerade eine von sozialem Rückschritt geprägte, dunkle Zeit.

Die finanzielle Unterstützung der Schadensminimierungsprogramme durch den Globalen Fond läuft 2018 aus. Was bedeutet dies für die betroffenen Einrichtungen und Projekte?

Es gibt aktuell rund 40 funktionierende und gut organisierte Projekte dieser Art, beispielsweise in Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg. Das sind nicht viele für das große Land, aber immerhin gibt es sie. Die Frage ist, wie lange noch. 19 Millionen Dollar werden pro Jahr ungefähr benötigt, um diese Projekte weiterfinanzieren zu können. Derzeit ist aber völlig unsicher, woher das Geld kommen soll. Dass dafür Staatsgelder fließen werden, ist sehr unwahrscheinlich.

Wie sieht es aktuell bei der Versorgung der HIV-Patient_innen mit den notwendigen Medikamenten aus?

Wer offiziell als HIV-Positiver im nationalen oder im regionlen Aidszentrum gemeldet ist, erhält die benötigten Medikamente – sofern er oder sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen. In Haft können HIV-Infizierte nämlich ihren Zugang zur Therapie verlieren. Wobei bereits geringe Mengen an illegalen Drogen ausreichen, um als Dealer zu gelten und entsprechend mit Haft bestraft zu werden. Doch auch wer einen Anspruch auf eine HIV-Therapie hat, muss mit ungewollten Behandlungsunterbrechungen rechnen, zum Beispiel, weil es zu Arzneimittel-Engpässen kommt.

Wer hingegen „nur“ mit Hepatitis C infiziert ist, hat keinen Anspruch auf eine staatlich finanzierte Behandlung. Diese Kosten müssen dann privat übernommen werden – anders als beispielswiese in der Ukraine.

Dort ist die Behandlungssituation, insbesondere für Drogengebrauchende, weitaus besser. 

Die ukrainische Gesellschaft ist -  im Gegensatz zu Russland, mehr horizontal organisiert. Dadurch sind ganz andere zivilgesellschaftliche Strukturen möglich. Den starken Nichtregierungsorganisationen ist es vor allem zu verdanken, dass sie ihre Forderungen durchsetzen konnten. Aber auch der Druck durch die Europäische Union hat dazu beigetragen, dass beispielsweise Substitutionsbehandlungen möglich sind.

Das von dem Global Fond finanzierte Hepatitis C-Behandlungsprogramm ist mittlerweile zwar ausgelaufen, aber man kämpft, es fortsetzen zu können. Vor 2014 kostete die Behandlung pro Patient 50.000 Dollar, dank der erfolgreichen Verhandlungen von NGOs und Regierung mit der Pharmaindustrie sind es inzwischen nur noch 900 Dollar. Einen solch guten Zugang zur Hepatitis-C-Behandlung gibt es wahrscheinlich nirgendwo sonst in der Welt.

Die Ukraine ist also, insbesondere was die Gesundheitsversorgung der Drogenkonsument_innen angeht, auf einem guten Weg?

Die Lage ist noch lange nicht stabil. Die Ukraine leidet wie viele der postsowjetischen Länder weiterhin unter einer schwachen Verwaltung, Korruption und kriegsähnlichen Zuständen wie etwa in der Donbass-Region. Doch trotz all dieser Schwierigkeiten gibt es Anlass, optimistisch in die Zukunft zu schauen. So werden Polizist_innen in der Ausbildung inzwischen auch zu Harm Reduction geschult. In Russland wäre das nicht vorstellbar. Die Drogenhilfsprojekte haben zwar nicht die besten Arbeitsbedingungen, aber sie sind so stark und effektiv, dass sie ihre Aufgaben auch weiter werden erfüllen können.

Was ist aus den Menschen geworden, die vor der Annektierung durch Russland auf der Krim substituiert wurden?

Für den russischen Staat ist die Wirkung der Substitutionstherapie nicht wissenschaftlich bewiesen, deshalb wurden die Programme wenige Monate nach der Annektierung eingestellt. Wir müssen davon ausgehen, dass  mehr als 100 Menschen in der Folge gestorben sind – sei es an einer Überdosis oder aufgrund des verschlechterten Gesundheitszustandes infolge des neuerlichen Drogenkonsums. 

Einige haben womöglich auch den Weg nach Deutschland geschafft. Im Städten wie Berlin wächst die Zahl der russischsprachigen Drogengebrauchenden. 

Wenn wir von der russischsprachigen Community in Berlin sprechen, meinen wir Menschen aus allen ehemaligen sowjetischen Staaten. Sie kommen nicht nur aus Russland und der Ukraine, sondern auch aus Ländern wie Georgien, Armenien, Aserbaidschan und dem Baltikum. Russisch ist für sie die lingua franca, um untereinander kommunizieren zu können.

So gibt es beispielsweise einen sehr großen Anteil an Menschen aus Tschetschenien unter diesen ehemaligen oder noch aktiven Drogengebrauchenden. Die Gründe für die Migration sind sehr unterschiedlich. Viele Russen sind dem System Putin entflohen, andere sind klassische Arbeitsemigranten. Für andere mag die gute soziale Hilfe ein Anreiz gewesen sein, nach Deutschland zu gehen.

Mit BerLUN hat sich vor kurzem, mitinitiiert durch die Berliner AIDS-Hilfe, eine Selbsthilfegruppe eigens für russischsprachige Drogengebrauchende gegründet. Welche Ziele und Aufgaben verfolgt diese Gruppe?

Zunächst geht es erst einmal darum, ein Netzwerk aufzubauen und Informationsmaterialien in russischer Sprache zu erstellen. Denn viele der Menschen wissen nicht, wo sie Hilfe finden können und aufgrund der Erfahrungen in ihrer Heimat vertrauen sie auch nur zögerlich den offiziellen Stellen. Die Aktivst_inne von BerLUN suchen sie deshalb auf der Straße auf. Während einige, die aus Staaten wie Moldawien stammen, ganz legal nach Deutschland kommen konnten, sind andere illegal hier. Sie leben oft auf der Straße und haben auch meist keinen Anspruch auf gesundheitliche Versorgung. Die Gruppe bietet diesen Menschen nicht nur eine Anlaufstelle, ihre Mitglieder können sich auch bei sozialen Problemen gegenseitig unterstützen. Mittelfristig will man aber auch politisch arbeiten. Der Bedarf ist zweifellos da. Ich schätze, dass derzeit einige Hundert russischsprachiger Menschen in Berlin leben, die früher Drogen intravenös konsumiert haben oder es derzeit tun, und ich habe den Eindruck, dass es in den letzten Jahren mehr geworden sind.

Das Interview führt Axel Schock und fand im Rahmen unsere Veranstaltung: Das Ende von Aids kommt nicht von allein. 15 Jahre Aktionsbündnis gegen AIDS. Leben ist ein Menschenrecht, statt.

Aktionsbündnis gegen AIDS, 2024